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Für ein aktives Altern: Ein Haus für alle

Das Haus «Parco San Rocco» in Coldrerio setzt auf einen generationenübergreifenden Ansatz. Die Bewohner:innen erhalten nicht nur individuelle Therapien, sondern auch die Möglichkeit, ihr Sozialleben und Kontakte mit der Bevölkerung über alle Altersstufen hinweg zu pflegen.


Text: Pia Bagnaschi

 

Eine der Lektüren, die mich als Mädchen beeindruckt hat, ist die Kurzgeschichte «Sette piani» (Sieben Stockwerke) des italienischen Schriftstellers Dino Buzzati. Sie handelt von einem Mann, der sich zu einer Untersuchung ins Spital begibt. Das Haus weist eine Besonderheit auf: Die Unterteilung in Stockwerke entspricht der Einteilung der Patient:innen nach der Schwere ihrer Krankheit. Im siebten Stock sind die Menschen mit leichteren Beschwerden. Je weiter man nach unten geht, desto ernster ist ihr Zustand. In der ersten Etage sind die Fenster geschlossen und fast immer verdunkelt. Der Protagonist, der angesichts seiner Krankheit zunehmend isoliert und allein ist, wird in diese Abwärtsspirale hineingezogen, in der er je länger, desto weniger Herr seines Schicksals ist. Der Text stammt aus dem Jahr 1939 und war als Kritik an einem kategorisierenden Gesundheitssystem gedacht, in dem Selbstbestimmung eine reine Utopie ist.

Genau dieses Gefühl der Enge, das Buzzati anspricht, kam mir oft, wenn ich bei Streifzügen durch die Stadt auf Gesundheitsinsitutionen und insbesondere Altersheime stiess. Mit ihrer Archiktur (hohe, mehrstöckige Gebäude), ihrer Lage (oft in Vororten, dicht bebaut und ohne Grünflächen) und ihrer äus­seren Erscheinung (grau, mit wenigen Öffnungen) erinnerten sie eher an Gefängnisse als an Altersheime. Zu allem Überfluss wies ihr Name oft ausdrücklich auf das Lebensende hin.

Ein Leben in Gemeinschaft statt «im Heim»

Zum Glück entwickelt sich die Gesellschaft und mit ihr die Herangehensweise an ethisch relevante Fragen. Die demografische Entwicklung mit einer steigenden Zahl von über 65-Jährigen hat erhebliche Auswirkungen auf das Sozial- und Gesundheitssystem. Wurden in der Vergangenheit betagte Menschen, die nicht mehr in der Lage waren, sich selbst zu versorgen, ins Heim «gebracht» und vegetierten dort bis zum Ende ihrer Tage vor sich hin, hat sich der Schwerpunkt allmählich auf Institionen verlagert, die besser in der Lage sind, auch klinische Aspekte zu berücksichtigen. In den letzten Jahrzehnten wurde ein Gleichgewicht zwischen dem bio-psycho-sozialen Wohlbefinden und der Umgebung erreicht, wo der Mensch im Zentrum steht. Es entstanden Lebensgemeinschaften, in denen sich Bewohnende, die noch die entsprechenden Ressourcen haben, frei bewegen, ihre Zeit für Wunschaktivitäten nutzen und Beziehungen «nach aussen» pflegen können. Personen, die nicht mehr selbstständig sind, werden in allen Aspekten des täglichen und des gesellschaftlichen Lebens begleitet und unterstützt.

Offenheit für Veränderungen ist gefragt

«Der Begriff Generation impliziert eine Vielzahl von Bindungen: inter- und intragenerationelle, inner- und ausserfamiliäre. Intergenerational oder Intergenerationalität be­schreibt das Vorhandensein von Beziehungen oder Ver­hält­nissen zwischen verschiedensten Generationen.»¹ In den letzten Jahren wuchs die Zahl der älteren Menschen, während die Geburtenrate stark zurückging. Damit verändern sich die sozialen Strukturen. Die Gemeinden müssen bei der Organisation und der Verteilung der Ressourcen vermehrt den Beziehungen zwischen den Generationen Aufmerksamkeit schenken und die Bedürfnisse der «neuen» Alten berücksichtigen. Dabei ist Offenheit für Veränderungen zentral und ein wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses sind generationenübergreifende Beziehungen, die den Austausch zwischen Menschen aller Altersgruppen, von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter, ermöglichen.

Ein generationenübergreifendes Quartier

Ein Beispiel dafür, wie das gelingen kann, ist die Casa Parco San Rocco in Coldrerio, die im vergangenen Jahr eröffnet wurde. Das Gebäude befindet sich im Dorfzentrum, in direkter Nachbarschaft von Gemeindeverwaltung, Schule, Sportplatz und Mehrzweckgebäude. Das Dorfzentrum ist für die Bevölkerung ein leicht zugänglicher Treffpunkt und lässt eine Vielzahl von Beziehungen und Aktivitäten zu. Da hier die wichtigsten Gebäude zu finden sind, verleiht es dem Ort Identität und schafft ein Gefühl von Zugehörigkeit. Hier trifft man sich zum Plaudern oder für Freizeitaktivitäten. Dank seiner Lage kann der Parco San Rocco die Funktion des Dorfplatzes übernehmen, wo die Interaktion der Bewohnenden mit der Bevölkerung erleichtert ist, was ihnen das Gefühl gibt, Teil der Gemeinschaft zu sein. Die soziale Integration ist ein Schlüsselelement für das Wohlbefinden und ein aktives Altern, von dem alle profitieren.

Freiräume zum Teilen

Der Name «Parco San Rocco» erinnert an einen grünen, offenen und gleichzeitig klar begrenzten, leicht zugänglichen und sicheren Ort für Begegnungen, Freizeit und Entspannung in einer schönen, naturnahen Umgebung. Die Wahl der Bezeichnung «Park» für das Projekt unterstreicht den Wunsch nach Offenheit, die auf dem Austausch zwischen den Bevölkerungsgruppen beruht und die Bedürfnisse der Bewohnenden des Hauses, aber auch all jener, die die diversen Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen, in den Vordergrund stellt.

Wegen seiner Nähe zur Gemeinde war es möglich, eine gemeinsame Philosophie umzusetzen, bei der die Bevölkerung und weitere öffentliche und private Einrichtungen einbezogen werden. Die Dienstleistungen – Café, Bäckerei, Restaurant, Coiffeursalon, Arztpraxis, Fitnessraum, verschiedene Therapieangebote und ein öffentlicher Saal – können nicht nur von den Bewohnenden, sondern auch von der breiten Bevölkerung genutzt werden.

Schon wenn man sich dem Gebäude nähert, wird das Konzept der Offenheit deutlich: Es gibt keinen Haupteingang, sondern mehrere Möglichkeiten, das Haus zu betreten. Das Gebäude wirkt einladend und zugänglich. Das Erdgeschoss ist nach aussen hin offen und lädt dazu ein, die dort angebotenen Dienstleistungen zu nutzen. So verringert sich die Gefahr der sozialen Isolation und die gemischte Nutzung der Räume macht es möglich, dass Menschen verschiedener Generationen Leben in das Haus bringen.

Familiärer Wohnsitz

Die grosse offene Fassade, die sich mit halbprivaten Bereichen abwechselt, fördert die Integration der Bewohner:innen in der Aussenwelt und verstärken gleichzeitig das Sicherheitsgefühl. Im Innern schaffen Nischen beim Eingang in jede Wohnung einen halbprivaten Bereich mit Sesseln und Regalen, in denen die Bewohnenden lesen, sich mit Besucher:innen unterhalten oder einfach an den Hausaktivitäten teilnehmen können. Die Wohneinheiten sind bewusst klein gehalten, um ihnen einen wohnlichen Charakter zu verleihen. Dank den  baulichen Details (in die Architektur integrierte Orientierungshilfen, offene Fassaden, bewegliche Wandelemente, Nischen anstatt lange Korridore) wird der institutionelle Charakter vermieden, der traditionelle Altersheime oft noch auszeichnet.

Eine neue soziale Perspektive

Der Umzug ins Altersheim ist für die betroffene Person und ihre Familienangehörigen ein heikler Schritt. Um ihn zu erleichtern, ist es wichtig, dass zukünftigen Bewohnende und ihre Bezugspersonen in die Festlegung der individuellen Bedürfnisse einbezogen werden. Das Mehrgenerationenhaus in Coldrerio hat es sich zum Ziel gesetzt, die Bewohnenden mit einem ganzheitlichen, bio-psycho-sozialen Ansatz zu betreuen, der den Körper und den Geist berücksichtigt. Sich zu Hause zu fühlen, Räume in Besitz zu nehmen und sie mit anderen zu teilen, ist gleichbedeutend mit Wohlbefinden und Autonomie, den grundlegenden Voraussetzungen für eine gute Lebensqualität. Deshalb ist es wichtig, einen neuen sozialen Raum zu schaffen, in dem die Generationen nicht nebeneinander leben, sondern in dem neue Denkweisen und Lebensformen geschaffen werden, in denen Gemeinschaft möglich ist. Im Parco San Rocco Coldrerio hat dieses Abenteuer gerade erst begonnen, aber der Enthusiasmus aller Beteiligten ist eine Garantie für Kontinuität auf dem Weg zu einer neuen sozialen Perspektive, in der der ältere Mensch nicht als Einschränkung, sondern als Ressource betrachtet wird. In diesem Sinne wird das Altenheim zu einem Ort der Pflege und der Begegnung zwischen den Generationen, wobei die Beziehungen als ein Element der Pflege betrachtet werden.

 

Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 12/2023 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.

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