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30 Jahre Notfallpflege Schweiz

Notfallpflege Schweiz feiert dieses Jahr das 30-jährige Bestehen. Am Jubiläumskongress wurde an einer Podiumsdiskussion aus pflegerischer und ärztlicher Perspektive in die Vergangenheit und in die Zukunft der Notfallpflege geblickt. Es zeigte sich: Bezüglich Spezialisierung war (und ist) die Pflege der ärztlichen Seite einen Schritt voraus.

Text: Ursula Feuz, Dirk Becker, Lorena Meier, Petra Valk-Zwickl, Petra Tobias

 

Notfälle und Notfallmedizin gab es schon immer, wahrscheinlich schon in der Steinzeit. «Notfallmedizin gehört einfach dazu», meinte Thomas S. Müller an der Podiumsdiskussion im Rahmen des Jubiläumskongresses des SBK-Fachverbands Notfallpflege Schweiz (s. Box rechte Seite). Petra Valk-Zwickl erinnerte sich hingegen an die Zeit, als es in den Kinderspitälern der Schweiz nur selten organisierte Notfallstationen gab und Familien an der Pforte klingeln mussten, um danach auf der Abteilung behandelt zu werden.




Rückblick in die Anfänge einer Spezialisierung

Die Entwicklung der Spezialisierung in Notfallpflege erforderte viel Engagement und einen langen Atem. 1991 startete eine kleine Gruppe, mit der Absicht, eine Interessengruppe Notfallpflege zu gründen. Bereits ein Jahr später wurde das erste Berufsbild der Fachschwester, des Fachpflegers Notfallpflege entwickelt. Die IG Notfallpflege wurde offiziell 1993 von acht Pflegefachfrauen und -männern gegründet. 2006 wurde die IG zu einer ordentlichen Interessengemeinschaft des SBK. Ein weiterer Meilenstein wurde im Jahr 2009 mit der Genehmigung des ersten Rahmenlehrplans für das Nachdiplomstudium HF in Notfallpflege erreicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte die IG bereits über 500 Mitglieder. Vier Jahre später, beim 20-Jahre-Jubiläum, zählte die Schweizerische Interessengemeinschaft Notfallpflege (SIN, wie Notfallpflege Schweiz damals hiess) über 700 Mitglieder. Zwei von ihnen, Petra Valk-Zwickl und Christian Ernst, waren ausserdem Gründungsmitglieder der Europäischen Vereinigung für Notfallpflege (European Society for Emergency Nursing EuSEN) und somit von Anfang an bei der Entstehung und Entwicklung des europäischen Verbands beteiligt.
Die IG engagierte sich unaufhörlich: 2014 wurde die einjährige Gratismitgliedschaft für frischdiplomierte Expert:innen Notfallpflege und 2015 das e-log-Punkte-System eingeführt. 2017 wurde die SIN zu einem SBK-Fachverband und führte einen Rechtsschutz für die Mitglieder ein. Erste Kommissionen – Event, Marketing, Qualität, Zeitschrift – wurden gegründet und 2018 der Namenswechsel zu Notfallpflege Schweiz vollzogen. Thomas S. Müller zeigte sich beeindruckt von der 30-jährigen Entwicklung: «Als Arzt zieht man den Hut, die Pflege ist im Lead.»

 

 

Optimiert für eine Existenz «am Rande des Chaos»


Die Notfallstation sei ein «einzigartiger Betrieb, optimiert, um am Rande des Chaos zu existieren», schreiben Smith und Feied (1999). Sie ist geprägt von vielen unterschiedlichen Situationen, die simultan bewältigt werden. Konstante Unterbrechungen sind die Folge und kontinuierliches Repriorisieren ist nötig. Entscheidungen müssen innerhalb kürzester Zeit gefällt werden, oft ohne die vollständigen Informationen zu haben. Volumen und Arbeitstempo können nicht vorhergesagt werden und Input, Throughput und Output liegen weitgehend ausserhalb der Kontrolle des Notfallteams (Seow, 2013, Smith & Feied 1999).
Dass es die Spezialisierung in Notfallpflege braucht, ist heute unumstritten. Die Schweizer Notfallstationen werden rege genutzt und bilden für viele Patient:innen das Eintrittstor zu einem komplexen Versorgungssystem. 2016 wurden in den rund 100 Notfallstationen 1,7 Millionen Notfallpatient:innen behandelt – das sind knapp 5000 Konsultationen pro Tag oder fast 200 Konsultationen pro Stunde. Das bedeutet, dass 14 Prozent aller Einwohner:innen 2016 mindestens einmal im Jahr auf einer Notfallstation behandelt werden mussten (Merçay, 2018). Gemäss Schweizerischem Gesundheitsobservatorium (Obsan) nehmen Kinder unter sechs Jahren die Notfallstation am häufigsten in Anspruch (2020).

Die Schweizer Notfallstationen haben im Grundsatz eine Behandlungspflicht.Es besteht jedoch keine einheitliche Definition von «Notfall» (Obsan, 2020). Aus diversen Gründen verzeichnen Notfallstationen seit Jahren eine kontinuierliche Zunahme von Patient:innen. Das Obsan statuierte eine Zunahme von 26 Prozent in den Jahren 2007 bis 2011 (Vilpert, 2013). Dabei stieg die Zahl der Patient:innen, die in der Notfallstation ambulant behandelt wurden, fast doppelt so stark an wie jene, die nach der Notfallbehandlung stationär betreut werden mussten (Vilpert, 2013).



Von hausinternen Kursen zum Nachdiplomstudium


Die Arbeit auf der Notfallstation ist zunehmend geprägt von Patient:innen mit Erkrankungen und Verletzungen von hoher Komplexität und Dringlichkeit. Die demografische Entwicklung führt zudem dazu, dass viele ältere Patient:innen auf den Notfallstationen behandelt werden, weshalb Polymorbidität  eine weitere Herausforderung darstellt. Gleichzeitig steigen die Fallzahlen stetig und es müssen auch Patient:innen in weniger dringlichen Situationen versorgt werden. Das erfordert hohe fachliche und organisatorische Kompetenzen. In der Triage schätzen Notfallpflegefachpersonen eigenständig die Behandlungsdringlichkeit ein und leiten eigenverantwortlich erste Massnahmen ein. Gemäss entsprechenden internen Richtlinien verabreichen sie auch eigenständig Medikamente, wie zum Beispiel Analgetika oder Antiemetika. Auf der Notfallstation werden Patient:innen aller Altersgruppen, Kulturen und sozialen Schichten betreut und die Notfallpflege ist mit Erkrankungen und Verletzungen aus jedem medizinischen Fachgebiet konfrontiert. Um unter diesen Bedingungen Professionalität zu garantieren, ist ein Nachdiplomstudium HF in Notfallpflege langfristig essenziell. Es ermöglicht neuen und unerfahrenen Mitarbeitenden eine effiziente Kompetenzerweiterung und ein Zugewinn an Sicherheit und Professionalität.
Was in den 1970er Jahren mit hausinternen Kursen und später kantonal anerkannten Fähigkeitsausweisen begann, wurde 2009 als gesamtschweizerisch eglementiertes Nachdiplomstudium (NDS) HF in Notfallpflege anerkannt. Damals setzten das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) und die nationale Dachorganisation der Arbeitswelt Gesundheit (OdASanté) eine Kommission ein, welche die Rahmenlehrpläne des NDS Notfallpflege (sowie auch jene des NDS ntensivpflege und NDS Anästhesie) entwickelte. Die Entwicklungskommission setzte sich zusammen aus Mitgliedern der Schweizerischen Interessengemeinschaft Notfallpflege (SIN), der Schweizerischen Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin (SGNOR), der Schweizerischen Interessengemeinschaft für Anästhesiepflege (SIGA), der Schweizerischen Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation (SGAR), der Schweizerischen Interessengemeinschaft Intensivpflege (IGIP) und der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI).Bei einem Vollzeitpensum dauert das NDS Notfallpflege zwei Jahre und umfasst mindestens 900 Lernstunden. Davon müssen 540 in der Praxis geleistet werden. Dazu gehören auch Praktika in angrenzenden Fachgebieten wie Intensivpflege und Rettungsdienst. Den Schwerpunkt bilden fachlich-praktische Aspekte.
In der Deutschschweiz bieten aktuell fünf Bildungsanbieter das NDS HF Notfallpflege an. Seit 2022 gibt es auch ein NDS Notfallpflege mit Schwerpunkt Pädiatrie. Es entstand unter der Federführung von Pediatric Emergency Medicine Switzerland(PEMS) mit Unterstützung von Notfallpflege Schweiz. Mit dem NDS Notfallpflege gilt die Schweiz im deutschsprachigen Raum als Vorreiterin. So gibt es zum Beispiel in Deutschland erst seit rund fünf Jahren und in Österreich noch keine einheitlich geregelte Ausbildung in Notfallpflege.

 

Wo steht die Spezialisierung auf ärztlicher Seite?


Bei der Podiumsdiskussion stellte Thomas S. Müller fest, dass die Pflegenden viel früher realisierten, dass es auf der Notfallstation eine Spezialisierung braucht und hätten diese gezielt gefördert. Auf ärztlicher Seite sei man noch nicht so weit.Die Notfallstation gelte teilweise immer noch als Sprungbrett, als Abteilung, die man schnell durchlaufe. Eine Ausnahme bilde die pädiatrische Notfallmedizin, die ein eigenes Gebiet der Pädiatrie und Kinderchirurgie ist und in der es seit 2014 den Schwerpunkt Notfallmedizin gibt. Die Ausbildung dauert 2 Jahre und wird mit einer Schwerpunktprüfung abgeschlossen,führte Georg Staubli aus. Ebenso ist es in der Erwachsenenmedizin: Es gibt eine Schwerpunktprüfung, angestrebt wird jedoch ein Facharzttitel Klinische Notfallmedizin.
Für Bruno Minotti braucht es eine Professionalisierung. Ein Facharzttitel Notfallmedizin würde erlauben, mehr Personal anzustellen. Thomas S. Müller verwies demgegenüber auf die grosse Variabilität der Spitallandschaft Schweiz, weshalb jedes Spital andere Bedürfnisse habe. Georg Staubli hält die Entwicklung eines Facharzttitels Notfallmedizin nicht per se für die Lösung. Wichtig sei vor allem eine gute Zusammenarbeit zwischen ärztlichem und pflegerischem Personal, die perfektioniert werden müsse: «Wir sind aufeinander angewiesen angewiesen und müssen uns gegenseitig unterstützen.» Bruno Minotti ergänzte: «Der Notfall ist eine Einheit, ein Team, dieselbe Mannschaft.»



Zusammenarbeit – Vorbild für das ganze System


Auch Thomas Dreher betonte, dass die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen ärztlichem und pflegerischem Personal gefördert werden müsse, und nannte als wichtigen Faktor die Konstanz im Team. Attraktivere Arbeitsbedingungen für Ärzt:innen könnten sich hier positiv auswirken. Das bedeute unter anderem, dass die rotierenden Assistenzärzt:innen über längere Zeit auf dem Notfall bleiben sollten. Die oft üblichen dreimonatlichen Rotationen seien ein erschwerender Faktor, konstatierte Petra Tobias. Nebst dem ärztlichen und pflegerischen Personal könnten aber auch weitere Berufsgruppen eine sinnvolle Erweiterung auf der Notfallstation sein. Thomas Dreher nannte als zwei Beispiele Therapeut:innen und Pharmazeut:innen. Sinnvoll seien auch eine gemeinsame Ausbildung und gemeinsame Simulationstrainings. Die Zusammenarbeit zwischen dem pflegerischen und ärztlichen Team auf Augenhöhe ist zentral. Das führte 2018 auch dazu, dass sich die PEMS mit den Pflegenden zusammenschloss.Der Verein wird durch ein Co-Präsidium, in dem die ärztliche und die pflegerische Seite vertreten sind, geleitet und führt einen jährlichen, zweitägigen interprofessionellen Kongress durch, der dieses Jahr Anfang September in Lugano stattfand.

 

Der Weg ist noch nicht zu Ende


Für Bruno Minotti ist die Spezialisierung nicht abgeschlossen, sondern müsse sich weiterentwickeln. Thomas S. Müller pocht auf Tempo – «Wir müssen schnell vorwärts machen» – während Thomas Dreher einen nötigen «nächsten Schub» fordert. Die Notfallstation sei die Eintrittspforte zu unserem Gesundheitssystem und somit die Visitenkarte. Dass die Notfallmedizin gestärkt werden müsste, werde von der Politik noch nicht erkannt, bedauert Thomas S. Müller. Mit der Notfallpflege zusammenzuarbeiten, sei «etwas Cooles», fügte er an und schlug vor, einen gemeinsamen Kongress zu organisieren. Man darf auf die weiteren Entwicklungen in der Notfallversorgung gespannt sein!

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Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 9/2023 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.

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