Gewalt in der Pflege: mehr Ausbildung für bessere Prävention

Mobbing, Beleidigung, Drohungen, Schläge … gewalttätige Vorfälle im Gesundheitsbereich nehmen zu. Umso wichtiger ist, dass Pflegende schon von Beginn an in der Prävention und im Umgang mit Gewalt und Aggression geschult werden, unabhängig davon, wer sie verübt. An der Fachhochschule Freiburg geschieht das in einem dreitätigen Modul.

Text: Bekim Mehmetaj, Claire Coloni-Terrapon, Marie Charrière-Mondoux, Foto Adobe Stock/Ligthfield Studios

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt Gewalt und Belästigung weltweit als grosse Bedrohung für die Sicherheit und die Gesundheit von Arbeitnehmenden ein. Das Gesundheitswesen und hier insbesondere die Pflegenden sind besonders stark betroffen: Ein Viertel aller Fälle von Gewalt am Arbeitsplatz findet in diesem Bereich statt. Das Pflegefachpersonal ist bis zu dreimal häufiger Opfer von Gewalt als andere Beschäftigte im Gesundheitswesen. Sie sind deshalb besonders anfällig für verschiedene Formen von Aggression, weil Patient:innen, Familien und Gemeinschaften am häufigsten mit ihnen interagieren und sie daher die Hauptlast ihrer Frustrationen tragen müssen. Pflegende können mit verschiedenen Arten von tatsächlicher und versuchter Gewalt konfrontiert werden: aggressives Verhalten, sexuelle, körperliche und/oder verbale Misshandlung, Einschüchterung und Belästigung. Gewalt gibt es in jedem Bereich der Pflege. In der Schweiz haben bis zu 73 Prozent der Beschäftigten in Alters- und Pflegeheimen, Spitex, sozialmedizinischen Zentren und psychiatrischen Institutionen bereits aggressive Verhaltensweisen wie Beleidigungen, Drohungen oder körperliche Angriffe von Seiten der Patient:innen erlebt.

 

Schlüsselrolle gegen häusliche Gewalt

Gewalt gegen das Personal in den Notfallstationen der Schweiz nimmt seit etwa zehn Jahren zu. Die Tageszeitung «24 heures» berichtet von rund 5000 Vorfällen in Genfer Notfallstationen im Jahr 2019. Im Berner Inselspital musste der interne Sicherheitsdienst 2022 1800-mal eingreifen, gegenüber 1600-mal im Jahr 2021. Auch andere Spitäler melden eine Zunahme von Gewaltvorfällen. Das Pflegepersonal ist aber nicht nur Ziel von Gewalt, sondern betreut auch Opfer. Insbesondere bei Fällen von häuslicher Gewalt spielt es eine Schlüsselrolle. Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt sind weltweit ein Problem und verursachen viel Leid. In der Schweiz stirbt im Durchschnitt alle zweieinhalb Wochen eine Frau durch häusliche Gewalt und rund 27?000 Kinder pro Jahr sind davon betroffen.

Es macht jedoch den Anschein, dass der Umgang mit Gewalt in der Grundausbildung der Pflegefachpersonen nicht ausreichend thematisiert wird, um Studierende und Berufseinstei­ger:innen in die Lage zu versetzen, dass sie in den oft komplexen Situationen wirksam intervenieren können. Das kann dazu führen, dass häusliche Gewalt nicht ausreichend erkannt wird, und es besteht zudem das Risiko, dass Pflegefachpersonen eine kontraproduktive Einstellung gegenüber den Opfern, aber auch gegenüber den Täter:innen entwickeln. Denn auch sie müssen betreut werden, damit sich die Anwendung von Gewalt im häuslichen Umfeld reduzieren und verhindern lässt.

 

Mobbing und Einschüchterung

Pflegefachpersonen sind zudem anfällig für Gewalt innerhalb des Arbeitsumfelds. Die sogenannte horizontale Gewalt äussert sich in Form von Belästigung und/oder Einschüchterung durch eine oder mehrere Personen in einer Gruppe. In der wissenschaftlichen Literatur wird dafür meist der englische Begriff «bullying» verwendet. Bullying heisst, dass eine Person belästigt, beleidigt, sozial ausgegrenzt oder bei der Arbeit gestört wird und das wiederholt und über einen längeren Zeitraum. Das Opfer dieser missbräuchlichen Verhaltensweisen nimmt schliesslich eine Position der Unterordnung ein. Dieses Phänomen ist die Ursache von sozialen, psychologischen und psychosomatischen Problemen wie beispielsweise Traumatisierung, Depression oder Schlafproblemen. Studierende in der praktischen Ausbildung und junge Berufseinsteiger:innen haben ein erhöhtes Risiko, am Arbeitsplatz Opfer von Mobbing zu werden. In Frankreich ergab eine Umfrage des nationalen Verbands der Pflegestudierenden im Jahr 2017, dass von 14?055 befragten Studierenden 36,9 Prozent diese Form von Gewalt während ihres Praktikums erlebt hatten. Mögliche Folgen sind starke Gefühle von Hilflosigkeit, Angst, der Verlust an Selbstvertrauen oder auch Wut und Feindseligkeit bis hin zum Wunsch, das Studium abzubrechen.

Eine grosse Herausforderung besteht darin, dass es für die Opfer von horizontaler Gewalt schwierig ist, die Erfahrungen, die sie machen, zu benennen. Denn die meisten Formen von Mobbing sind heimtückisch: Es wird zu Beispiel hinter dem Rücken des Opfers geredet, es kommt zu verbalem Missbrauch oder Ausgrenzung, die Person wird wie Luft behandelt oder es werden ihr Informationen vorenthalten. Bei frisch diplomierten Pflegefachpersonen wird horizontale Gewalt zuweilen als ein von den erfahrenen Pflegefachpersonen durchgeführtes «Übergangsritual» angesehen. Nicht selten wird dieser Missbrauch von den neuen Mitarbeitenden akzeptiert. Sie dulden ihn, bis er nachlässt respektive bis eine neue Person kommt, die ihren Platz einnimmt. So können Einschüchterung und Belästigung zu einer gängigen Praxis werden, die als «normal» akzeptiert und aufrechterhalten wird. Ausserdem können negative Arbeitserfahrungen dazu führen, dass sich Berufseinsteiger:innen solche Verhaltensweisen zu eigen machen und damit reproduzieren. Passive, auf Emotionen gerichtete Bewältigungsmuster, wie zum Beispiel Nichtbeachten oder das Vermeiden von Vorfällen, verhindern, dass Studierende und Berufseinsteiger:innen Hilfe suchen oder einen Missbrauch melden.

 

Drei Tage spezifische Ausbildung zu Gewalt

Zur Prävention und zum Umgang mit Gewalt und Aggression in der Pflege wurde an der Hochschule für Gesundheit Freiburg (HEdS-FR) im Rahmen des Bachelor-Studiengangs ein neues Modul eingeführt. Seit 2021 absolvieren die Studierenden des dritten Jahres einen dreitägigen Kurs zu folgenden Themen: häusliche Gewalt, horizontale Gewalt, Mobbing und Belästigung am Arbeitsplatz sowie Gewalt und Aggression durch Pflegeempfänger:innen oder deren Angehörige. Das Hauptziel des Kurses besteht darin, konkrete Instrumente zur Prävention und zum Umgang mit Gewalt und Aggression zu vermitteln. In den drei Unterrichtstagen wechseln sich theoretischer Unterricht und praktische Workshops ab.

Das Thema häusliche Gewalt wird mit theoretischen Inputs und Vorträgen von verschiedenen Freiburger Fachstellen behandelt, die sich gegen häusliche Gewalt engagieren und Opfer oder Täter:innen begleiten. Anschliessend werden die Studierenden dazu aufgefordert, Videosequenzen zu analysieren. Dazu nutzen sie das Interventionsprotokoll für Fachpersonen des Kantons Freiburg DOTIP. Es beinhaltet die Elemente Erkennen (Dépister) – Unterstützung anbieten (Offrir un message de soutien) – Ressourcen und Vernetzung nutzen (Traiter la situation) – Informieren (Informer) – Schützen und Rückfälle vermeiden (Protéger et Prévenir). Die Analysen werden ergänzt durch Empfehlungen von Géraldine Morel, der kantonalen Koordinatorin im Kampf gegen Gewalt in der Partnerschaft und Tierry Jaffrédou, Experte und Dozent in Notfallpflege und Vertreter des Spitals Freiburg in der kantonalen Kommission gegen Gewalt in der Partnerschaft.

In den Lerneinheiten zu horizontaler Gewalt, Mobbing und Belästigung am Arbeitsplatz können die Studierenden die Theorie mithilfe von Rollenspielen verinnerlichen. Sie üben, wie man Mobbingverhalten erkennt und darauf reagiert, in einer sicheren Lernumgebung. Zum Thema Gewalt und Aggressionen seitens der Patient:innen oder ihrer Angehörigen entwickeln die Studierenden mithilfe von Simulationen deeskalierende und entschärfende Strategien und erwerben in praktischen Workshops Rückzugstechniken. Für die praktischen Kurseinheiten werden die Studierenden in Gruppen von acht bis zwölf Personen eingeteilt. Zusätzlich steht während der gesamten drei Tage ein Beratungsangebot für Studierende zur Verfügung, die direkt oder indirekt persönlich von Gewalt betroffen waren und bei denen der Umgang mit dem Thema möglicherweise Unbehagen auslösen oder verstärken könnte.

Bewertung des Moduls durch die Studierenden

Die Bewertung der Studierenden umfasste die Anwesenheit im Unterricht, die aktive Teilnahme an den verschiedenen Workshops und die obligatorische gemeinsame Lektüre. Die Teilnehmenden wurden gebeten, das Modul am Ende des Programms zu bewerten. Von 124 teilnehmenden Studierenden beantworteten 78 den Fragebogen. Von diesen waren 82 Prozent (64 Teilnehmende) sehr zufrieden und 18 Prozent (14) zufrieden mit den Inhalten, der Organisation, den Lehrpersonen und den externen Fachpersonen. Die Studierenden bewerteten die Kurse als «sehr interessant und bereichernd», «relevant», «konkret» und «spannend». Das Angebot für psychologische Unterstützung wurde sehr geschätzt, auch wenn es nur wenig genutzt wurde. Einige Studierenden bedauerten, dass sie die Schulung erst im letzten Jahr des Studiums erhalten hatten, und hätten sich eine längere Dauer gewünscht.

 

Ausblick

Ein Kurs zu Prävention und Umgang mit Gewalt und Aggression in der Pflege hat ihren Platz in der Bachelor-Ausbildung. Er fügt sich sinnvoll in den neuen Rahmenlehrplan 2021 des Studiengangs Bachelor of Science HES-SO in Pflege ein, in dem eine der Prioritäten auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit Prävention und Gesundheitsförderung gelegt wird. Besonderes Augenmerk sollte der Identifizierung und dem Erkennen von Mobbing gewidmet werden. Die Sensibilisierung der Studierenden für Mobbing sollte beginnen, sobald sie sich auf ihre Praktika vorbereiten. Dazu gehören Informationen, die sie dabei unterstützen, Gewalt am Arbeitsplatz zu verstehen und zu erkennen, sowie Wissen darüber, wie sie Vorfälle melden können. Die Studierenden müssen ausserdem darauf vertrauen können, dass Vorfälle angemessen behandelt werden und dass sie nach einem Ereignis Unterstützung erhalten, einschliesslich Beratung und Debriefing. Da es unseres Wissens auf nationaler Ebene keine Statistiken gibt, die Erfahrungen von Pflegestudierenden mit horizontaler Gewalt erfassen, plant die Hochschule Gesundheit Freiburg, eine entsprechende Prävalenzstudie durchzuführen.

Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 7-8/2023 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.

11 Mal pro Jahr erscheint die dreisprachige Fachzeitschrift für die Pflege. Mitglieder des SBK erhalten sie frei haus. Andere Interessierte können die Fachzeitschrift abonnieren. Ein Jahresabonnement kostet 99 Franken.

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