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Peerarbeit am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ)

Seit 2008 sind im Schweizerischen Paraplegikerzentrum Peers im Einsatz. Als Betroffene unterstützen sie Menschen, die neu mit einer Querschnittlähmung leben, in ihrer veränderten Situation. Sie sind Hoffnungsanker und zeigen, dass man auch mit einer Para- oder Tetraplegie ein gelungenes Leben führen kann.

Text: Danielle Pfammatter

 

Auf einmal habe ich gesehen, wie viel man als Tetra noch machen kann», sagt Joel im Rückblick auf die erste Begegnung mit seinem Peer Christian «und wie locker er mit seiner Behinderung umgeht. Das gab mir Hoffnung, das wollte ich auch erreichen. So wurde Christian für mich zum Ansporn für die Rehabilitation.» «Wir zeigen, dass man auch im Rollstuhl ein schönes Leben haben kann», sagt Christian. «Nicht die Einschränkungen stehen im Fokus, sondern wie man damit umgeht – gerade an Orten, wo Rollstuhlfahrer vor grossen Herausforderungen stehen. Ich demonstriere: So funktionierts.» («Paraplegie» vom März 2021).

Joel wohnt heute in einer eigenen Wohnung, nachdem er im Übergang zwischen Klinik und der Rückkehr nach Hause in einer Wohngemeinschaft der Schweizer Paraplegiker Gruppe, in der Nähe des SPZ lebte. Zurzeit befindet sich Joel in beruflicher Umschulung, einem Kernelement der Rehabilitation am SPZ, da er seinen Beruf als Maurer nicht mehr ausüben kann. Seit einem Jahr ist Joel sporadisch als Freiwilligen-Peer im Einsatz. In dieser Rolle teilt er seine Erfahrungen und Expertise mit jungen Tetraplegiker:innen, die ein ähnliches Schicksal ereilt hat, während ihrer Rehabilitation. Er unterstützt sie in der Sinnfindung, ist Vorbild und Hoffnungsträger.

 

Geschichte der Peerarbeit am SPZ

Das Peer Counselling am SPZ wurde im Jahr 2009 erstmalig in einem Artikel mit dem Titel «Betroffene beraten Betroffene – Wie am Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Patienten geschult werden» beschrieben (C. Schwager, T. Kämpfer 2009). Therese Kämpfer, die Pflegefachfrau KWS war und Tetraplegikerin ist, setzte sich als Pionierin für den Einsatz von Peers in der Rehabilitation von Querschnittgelähmten an unserer Klinik ein. Schon 2008 gab es ein kleines Peerteam. Parallel dazu entwickelte sich die Patient:innen-Edukation. So trägt etwa der Kurs zum Thema Sexualität und Querschnittlähmung noch heute die Handschrift der Pionierin.

Heute sind zwölf Personen im Peerteam angestellt, die als Para- und Tetraplegiker:innen im Rollstuhl, als Angehörigen-Peer (Angehörige von querschnittbetroffenen Menschen) und als Fussgänger:innen (Querschnittverletzte mit inkompletter Tetraplegie) leben. Damit erweitert sich der Fokus auf Angehörige und Menschen mit inkompletter Querschnittlähmung. Fussgänger:innen mit inkompletter Lähmung kämpfen vielfach gegen Stigmatisierung, da ihre Beeinträchtigungen auf den ersten Blick oftmals nicht sichtbar sind. Das Team ist auf unsere Patient:innen abgestimmt – dabei werden Gender, Lähmungshöhe, querschnittähnliche Krankheitsbilder, Alter und Sprachkompetenz in der Auswahl der Peers berücksichtigt. Alle Patient:innen erhalten das Angebot einer Peerberatung – weitere Besuche werden nach Bedarf und Bedürfnissen geplant.

 

Rolle als Peer und Wirkungsfelder

Die Voraussetzungen für die Arbeit als Peer sind Distanz zum eigenen (traumatischen) Ereignis, die Wahrung einer persönlichen und professionellen Beziehung sowie die Fähigkeit, erfahrungsbasierte Kenntnisse vom Wissen der Health Professio­nals trennen zu können. Die Begleitung von Menschen in äusserst existenziellen Lebenssituationen setzt Empathie, Einfühlungsvermögen, Kommunikationskompetenzen sowie die Tugenden Geduld, Kreativität und Flexibilität voraus. Auch eine Portion Leichtigkeit und Humor ist im Umgang mit belasteten Menschen situativ von grosser Bedeutung. Die Peers tragen wesentlich dazu bei, dass Betroffene Hoffnung und Sinn in einer veränderten Lebenssituation finden können. Sie begegnen den Patient:innen im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe. Sie sind Vorbilder, dass das Leben mit oder trotz kompletter/inkompletter Para- oder Tetraplegie lebenswert ist und sie, abgesehen von ihrem Handicap, ein nahezu «normales» Leben führen können. Sei es, dass sie in glücklichen Partnerschaften (mit Fussgänger:innen) leben, teils Familienväter- und Mütter sind, in verschiedenen Berufsfeldern arbeiten, unterschiedliche Sportarten betreiben, Hobbys pflegen, gerne reisen etc.

Wie bei jeder Disziplin birgt auch die Rolle als Peer mögliche Gefahren. Dazu gehören beispielsweise der Verlust der Distanz zum eigenen traumatischen, schicksalhaften Ereignis, die Überidentifikation in der Rolle als Helfende oder der eingeschränkte Fokus individuell gemachter Erfahrungen und Perspektiven, die sich von Erfahrungen anderer Menschen mit ähnlichem Krankheitsbild massiv unterscheiden können. Deshalb ist das Zusammenspiel der jeweiligen Exzellenz, der Peers, Ergo-, Physio-, Sporttherapie, Pflege, Medizin und anderen Professionen äusserst relevant.

Diesen Aspekten ist in der Leitung des Peerteams Rechnung zu tragen, indem präventive Massnahmen initiiert werden. Dazu zählen etwa eine sorgfältige Einführungszeit mit unterstützender Begleitung, kollegiale Hospitationen, Kommunikationsschulungen, Austauschtreffen mit anderen Disziplinen, Standortbestimmungen, Teamsitzungen und Einzelcoachings. Konkret sind die Peers in folgenden Wirkungsfeldern aktiv:

- 1:1-Beratung
- Beteiligung bei der obligatorischen Patient:innenedukation in Form von Gruppenschulungen zu den Themen Blase, Darm, Spastizität und Spastik, Sexualität und Querschnittlähmung, Regulation der Körpertemperatur bei Tetraplegie
- Beteiligung bei der fakultativen Patient:innenedukation (Umgang mit Schmerz, Reisen und Urlaub, Angehörigentag, Erfahrungsaustausch und Energietanken)
- Learning-by-Doing-Ausflüge: Erlernen und Erfahren der Aussenwelt unter therapeutischer Anleitung und Peer-Erfahrung, die das «WIR-Erlebnis», das Selbstvertrauen und die Zuversicht für die Zukunft fördern.

 

Stimmen zur Peerarbeit aus unserer Klinik

Dass die Peers im interdisziplinären Team nicht mehr wegzudenken sind, wird durch folgende Zitate deutlich:

«Für uns in der Pflege sind die Peers eine sehr wertvolle Ressource. Sie begegnen den Patient:innen und den Angehörigen auf Augenhöhe, sind glaubhafter, können sich gut einfühlen, weil sie die gleichen Situationen durchgemacht haben. Angehörigen-Peers kennen die Ängste und Sorgen der Angehörigen, welche Mitbetroffene sind. Betroffenen fällt es auch leichter, Themen anzusprechen, die sehr intim und persönlich sind. Peers sind wertvolle Hoffnungsträger und unterstützen uns Pflegende in der Aufgabe, die Patient:innen zu ermutigen und in ihrer Selbstständigkeit zu fördern.» (N. Escher, Stationsleiterin Pflege)

«Aus medizinischer Sicht wissen wir den Einsatz eines Peer Counsellings in unserem Bereich sehr zu schätzen. Integriert ins Behandlungsteam und doch selbständig und unabhängig von den ‹offiziellen› Behandlungsabläufen, profitieren Patient:innen sehr von dieser Unterstützungsmöglichkeit. Peers können aus einer anderen Perspektive und mit einer anderen Erfahrung Betroffene häufig in der ersten Phase einer Querschnittlähmung individuell im Anpassungs- und Akzeptanzprozess unterstützen.» (KD Dr. Med. A., Scheel-Sailer)

«Dank der Rückmeldungen der Peers an mich können wir die Inhalte der Rehabilitation noch patient:innenorientierter anpassen – es handelt sich dabei um kleine Alltagsaktivitäten.» (J. Decker, Co-Leitung Therapien)

«Ich nehme das Peer-Counselling-Programm als eine einmalige Chance für unsere Patient:innen wahr, um in ungezwungenem Rahmen persönliche Anliegen mit «Gleichgesinnten» besprechen zu können. Durch die wertvolle Peer-Arbeit können Leid geteilt und Perspektiven geschenkt werden.» (St. Füreder, Fachverantwortliche Therapien)

«Die Zusammenarbeit mit den Peers ist für uns eine nicht wegzudenkende Ressource. Ich geniesse insbesondere auch die Zusammenarbeit bei den von ihnen organisierten Learning-by-Doing-Ausflügen. Dieses Angebot ist so wichtig für unsere Patient:innen, da sie ausserhalb vom SPZ in unterstütztem Rahmen ihren Radius mit der Einschränkung erweitern und Neues ausprobieren können.» (S. Schmidt, Physiotherapeutin)

«Wir Ergos erleben einen sehr unterstützenden und motivierenden Effekt. Sowohl für Patient:innen als auch für uns als Therapeut:innen. Die Peers können Aktivitäten vorzeigen, sind viel authentischer als wir es jemals sein können. Durch den Peer-Support bekommen Patient:innen eine Idee, welche Hilfsmittel nützlich und welche vielleicht auch überflüssig sind. Ab und an stellt der Einfluss der Peers auch eine Herausforderung dar: Patient:innen entwickeln auf einmal neue Ideen zu Aktivitäten und Hilfsmitteln, die vorerst jegliche Pläne über den Haufen werfen können. Sensationell finden wir die Learning by Doings, bei denen ein realistischer Blick in die Zukunft ermöglicht wird.» (Ergotherapeut:innen-Team).

 

Keine Lückenbüsser:innen gegen Personalmangel

Der Peerarbeit kommt im Gesundheitswesen in den letzten Jahren und in naher Zukunft eine zunehmende Bedeutung zu. Auch wenn eines der Motive in der zunehmenden Personalknappheit begründet sein könnte, dürfen Peers nie als Lückenbüssende eingesetzt werden. Sie sind als eigenständige Disziplin im interprofessionellem Rehabilitationsteam mitzudenken, die sich zusammen mit Pflegenden, Thera­peut:innen und Mediziner:innen für die individuelle Zielerreichung «der Gesundung» von Patient:innen engagieren. Die Studie «Role of peer support for people with a spinal cord injury» (2019) kommt zum Schluss, dass der Peer-Support ein wichtiges Element im interdisziplinären Team darstellt. Das auch bezüglich der Unterstützung von Fachpersonen, die im Umgang mit Menschen mit Querschnittlähmung noch wenig erfahren sind. Diese Erkenntnis teilen wir in unserer Klinik vollumfänglich.

 

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Dieser Schwerpunkt erschien in der Ausgabe 10/2023 der Krankenpflege, der Fachzeitschrift des SBK.

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